Inverness, Rock Ness Festival, Sonntagabend, Headliner: Dark Skirt

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Malcolm King, Sänger und Gitarrist seiner Band Dark Skirt, nahm die brüllende, tanzende, springende Zuschauermenge vor sich kaum noch wahr. Er befand sich in seiner eigenen Welt, die Welt seiner Songs, seiner Lyrics, seiner Gitarre, umgeben von seinen Dämonen, seinen Ängsten, beflügelt von dem, was er seine Muse nannte, die grüne Fee, die in der Flasche Absinth wohnt. Er strapazierte und quälte seine Stimme bis zur Schmerzgrenze, seine langen schwarzen Haare klebten im Gesicht, das Make-up begann, zu verlaufen, sein Hemd war nass von seinem Schweiß, er sang seine Songs wie im Rausch. Nur so konnte er die Dämonen, die ihn ständig verfolgten, für eine Weile im Zaum zu halten. Doch sie würden auf ihn warten, keine Chance, ihnen jemals zu entkommen. In der Garderobe nach der Show, auf dem Weg zur Limousine, im Hotelzimmer, in jedem Hotelzimmer, auf jedem Flughafen dieser Welt, in jedem Blitzlicht einer Kamera, die bei allem, was er tat, überall, wo er sich zeigte, auf ihn gerichtet war. Inzwischen hatten sie ihren Deal gemacht, sein Tourmanager und er, keine harten Drogen mehr vor einem Liveauftritt, nicht noch einen Zusammenbruch auf der Bühne. Dafür würde Tony ihm, so gut es ging, die Presse vom Hals halten, zu oft hatte er das falsche gesagt. Wobei - egal, was er sagte, jedes Wort wurde ihm im Mund verdreht, noch bevor er einen Satz vollendet hatte. Gut, er war ausgerastet, hatte sturzbetrunken oder zugedröhnt wirklich manchmal nur Blödsinn erzählt, genau das wollten seine Dämonen, damit die Hetzjagd weiterging. Jetzt würde Tony alle fernhalten, ihn ohne Belästigungen in sein Hotelzimmer bringen und ihm dort endlich die Spritze geben. Er würde sich den Schuss setzen, der ihn für eine Weile die Dämonen vergessen ließ, irgendwann würde er sich im Tourbus wiederfinden, der ihn irgendwohin bringen würde und alles würde so weitergehen wie immer. Manchmal ein, zwei Groupies in seinem Bett, meistens weiblich, aber auch attraktive Boys waren willkommen.
So ging es seit fast drei Jahren. Als sich der erste Erfolg eingestellt hatte, der Vertrag mit der Plattenfirma unterzeichnet war, flossen Geld und Champagner in Strömen und die Hetzjagd hatte begonnen. Sie hatten alles, Ruhm, Erfolg, ihre zweite CD verkaufte sich rasend schnell, seit einem dreiviertel Jahr reisten sie um die Welt. Die Bühnen wurden immer größer, aber Malcolm konnte sich nicht erinnern, irgendwo noch eine eigene Wohnung zu besitzen. Er lebte aus dem Koffer in Hotelzimmern, die immer komfortabler und furchteinflößender wurden, waren sie für eine Weile in London, das laut Pass seine Heimat war, nächtigte er in einem Luxusapartment im Haus der Plattenfirma. Für alles gab es Personal, das darauf achtete, dass er wenigstens gelegentlich etwas aß, dass er schlief, was ihm immer weniger gelang und das dafür sorgte, dass die grüne Fee und die Ampullen mit den Drogen, die das sanfte Vergessen oder die nötige Power brachten, immer zur rechten Zeit, im rechten Maß greifbar waren. Designer standen Schlange, ihn einzukleiden, eine Armada aus Kosmetikern, Garderobieren und Haarstylisten begleitete die Konzertcrew, für alles war gesorgt. Malcolm war permanent umgeben von freundlichen, zuvorkommenden, mehr oder weniger kriecherischen Leuten, ständiges Händeschütteln, Umarmen, Abknutschen... und war doch jämmerlich einsam. Die wenigen Namen, die in seinem Mobiltelefon noch eingespeichert waren, wurden zunehmend bedeutungslos, an manche konnte er sich kaum mehr erinnern. Das einzige, was noch half, war die Musik. Allein im Bett zu liegen, die Gitarre in den Händen und sein Elend freizulassen, formulieren in einen Songtext und jeden Abend vor tausenden Fans herauszuschreien, das brachte Erlösung und schreckte für ein, zwei Stunden die Dämonen ab. Aber sie warteten, geduldig. Noch fünf Wochen das Herumreisen, dann wieder das Eingesperrtsein in Luxus, Partys und Langeweile, schon hatten sie ihn wieder.
Der Vertrag mit dem Label lief über fünf Alben, zwei waren schon erschienen, sie würden ihn wieder hetzen, die nächste CD, die nächste Welttournee...
Zwischen zwei Liedern wollte er nach der Plastikflasche greifen, es standen zwei bereit, die eine rutschte ihm gerade aus der verschwitzten Hand und entleerte ihren Inhalt auf den Bühnenbrettern, er griff nach der zweiten. Diese war die, in der wirklich das Wasser war, der Gin war futsch. Wütend feuerte Malcolm die halbleere Wasserflasche hinter sich und schlug erbarmungslos in die Saiten der Gitarre. Singen, die Musik half. Die Fans kreischten vor Begeisterung, als sie den angespielten Titel erkannten und begannen, wie eine ferngesteuerte Masse im Takt zu springen.

Würde Malcolm soweit blicken können, wenn er jemals die Mauer aus Fans als Ansammlung einzelner Individuen wahrnehmen würde, könnte er weit hinten einen jungen Mann erkennen, der reglos mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf einer Mülltonne saß. Die Security-Leute dachten sicher, er wäre eingeschlafen oder betrunken oder schlimmeres, da er sich nicht wie alle anderen im Takt bewegte und schlossen bestimmt schon Wetten darüber ab, wann er von der Tonne stürzen würde. Genaugenommen war er auch gar nicht in seinem Körper anwesend, sein Geist und seine Sinne befanden sich direkt vor der Bühne, in unmittelbarer Nähe von Malcolm. Die Augen hatte er geschlossen, da sie bei dieser Art der Reise dunkelrot geglüht hätten, jetzt in der Nacht - Fritz war ein Vampir. Er hatte schon das ganze Wochenende mit seiner neuen süßen rotgelockten Freundin auf dem Festival verbracht, Sheela, so hieß seine neue Flamme, hatte sich längst erschöpft in den geborgten Transporter, in dem sie hier campierten, zurückgezogen. Fritz war ein absoluter Dark Skirt-Fan, dieses Konzert wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen, Sheela wäre nachher immer noch da.

Wenn jemand im Publikum die Gabe der zweiten Sicht besitzen würde, könnte er weitere nichtmenschliche Wesen wahrnehmen. Die beiden Engel waren ebenfalls auf der Bühne, nahe bei Malcolm gewesen. Der dunkelhaarige mit den schwarzen Flügeln war schnell verschwunden, er hielt sich inzwischen in der Nähe des Vampirs auf, hatte einen Ellenbogen auf die Mülltonne gestützt, sein Kinn ruhte auf seiner Hand, nachdenklich betrachtete er den jungen Mann. Manchmal schaute er flüchtig Richtung Bühne, aber seine Aufmerksamkeit galt Fritz. Der andere Engel, blondgelockt, die Flügel weiß, schwebte neben Malcolm und ließ ebenfalls kaum einen Blick von dem Objekt seines Interesses. Bewegten sich seine Schwingen tatsächlich im Takt der Musik? Wenn ein Sehender anwesend wäre und die Bewegungen des weißflügligen Engels genau beobachtet hätte, vielleicht wäre ihm aufgefallen, dass der Engel Malcolm die Flasche mit dem Gin aus der Hand gewunden hatte. Aber es hatte keiner gesehen, auch nicht sein schwarzer Engelskollege.

Damon, so hieß der Schwarzflügler, hatte den Auftrag bekommen, Malcolm King in die andere Dimension zu holen. Das war sein Job, er hatte sich unter seinesgleichen bereits einen Namen gemacht, sein Einfallsreichtum hatte sich herumgesprochen. So war er in die Liga derer aufgestiegen, welche die Prominenten als Klienten bekamen, deren Tod Schlagzeilen machen würde. Der interne Wettbewerb unter den Engeln bestand darin, mit immer neuen, originellen Varianten des Vollzuges aufzufallen, je bekannter ein Klient war, umso raffinierter sollte der Abgang sein. Nur so konnte man sich hervortun und die interessanteren Aufträge bekommen. Damon war ein Meister seines Faches, daher bekam er zunehmend Aufträge mit nichtmenschlichem Klientel. Rockstars wie Malcolm langweilten ihn inzwischen, außerdem fand er, es war noch zu früh, Malcolm war gerade 26. Schließlich hatte er die Legende der magischen 27er Jahre geschaffen und wurde inzwischen, wie immer, auch hierbei gern kopiert. Er hatte sich vorgenommen, Malcolm King genauer zu beobachten, vielleicht könnte er den Auftrag ein wenig zeitlich ausdehnen und eine neue Variante des 27er-Todes zelebrieren. Wieder die gleiche Masche, Alkohol, Drogen, das hatte dieser junge Musiker eigentlich nicht verdient. Es steckte eine charismatische, feinfühlige, ehrliche und sehr verletzliche Person hinter der drogenvernebelten Fassade. Dann hatte er im Publikum seinen Problemklienten, wie er ihn im Stillen nannte, wahrgenommen - Friederich vom Dunkelberg, Fritz. Schon lange stand dieser auf seiner Liste, jetzt war er überrascht, den jungen deutschen Vampir hier anzutreffen. Zwei ernsthafte Versuche hatte er bereits unternommen und war jedes Mal gescheitert. Fritz war eine starke Persönlichkeit, ein Querdenker und Romantiker. Eigentlich schade, dass er so jung heimgeholt werden sollte. Daher wollte er Fritzens Tod ursprünglich passend zu dessen Charakter einfädeln, stilvoll, spektakulär und romantisch.
Wie konnte er die Sache geschickt arrangieren? Malcolm King war uninteressant geworden. Die Tatsache, hier die Angelegenheit mit Friederich vom Dunkelberg bereinigen zu können, lenkte vom ursprünglichen Auftrag ab. Vielleicht würde er sich doch für die schnelle Variante entscheiden, warten, bis Malcolm allein im Bett lag, abgefüllt mit Absinth und Gin, ein wenig Übelkeit hervorrufen, das obligatorische Erbrechen im Tiefschlaf... die Schlagzeilen in der Presse morgen würden den allbekannten Rock´n´Roll-Tod vermelden, im Rausch erstickt am Erbrochenen, langweilig, aber immerhin schneller als andere, schon mit 26. Nicht sehr originell, aber Fritz heimzuführen, das würde in ihren Kreisen die Sache wieder wettmachen. Während Damon so in seine Gedanken vertieft war, hatte er nicht bemerkt, dass die Ginflasche vom anderen Engel sabotiert worden war.

Lucien, so hieß der Engel mit den weißen Flügeln, hielt sich immer in Malcolms Nähe auf. Diese selbstgewählte Aufgabe wurde mit der Zeit immer komplizierter. Außerdem war das, was er hier tat, strikt verboten. Lucien war einer derjenigen, die die Menschen als Schutzengel bezeichnet würden. Er war der, der im rechten Moment die Hand reichte, den herabfallenden Ziegelstein ein wenig in der Richtung ablenkte, Unachtsame wachrüttelte, kurz bevor die Gefahr zuschlug - solange die Zeit noch nicht reif war. War der schwarze Engel anwesend, waren dem Weißflügler die Hände gebunden, durfte er nicht mehr eingreifen. Luciens Heimat war Paris, dort agierte er, schon immer. Zeit war für die Engel ohne Bedeutung. Im Gegensatz zu den Schwarzflüglern, die ihren konkreten Auftrag für ihren Klienten vom Meister erhielten, war es Luciens Aufgabe, in seinem Gebiet über die Menschen zu wachen. Dies hatte er bisher so getan, seit es ihn gab. Nicht mal er selbst wusste, wie lange er schon über der Stadt schwebte, durch die Straßen geglitten war, wie viel Unglück er schon verhindert hatte. Engel haben die göttliche Gabe, schnell zu vergessen. Dies war wohl zu ihrem eigenen Schutz so eingerichtet worden. Wer sich kaum erinnert, ergreift nicht so schnell Partei, entwickelt keine Sympathien, unterscheidet nicht zwischen gut und böse. Engel sollen vorbehaltlos ihre zugewiesene Aufgabe erfüllen können, so lautet der Plan. Bisher hatte auch Lucien so funktioniert, bis er vor fast drei Jahren Malcolms Stimme gehört hatte. Er hatte über dem Stadion geschwebt, in dem das Konzert von Dark Skirt damals stattfand, sie hatten als Vorband gespielt, selber waren sie damals noch nicht so berühmt, ganze Arenen zu füllen. Große Menschenmengen waren immer der Platz, an dem sich die Schutzengel sammelten, meistens gab es viel zu tun. Es war etwas in der Stimme des damals 23jährigen Sängers, das etwas in Lucien wachrüttelte. Obwohl Malcolm damals noch nicht den chemischen Drogen hörig war, seine Energie kam noch aus ihm selbst, spürte Lucien die innere Zerrissenheit des jungen Mannes. Er sprühte vor Elan und Energie, war überzeugt von sich und dem, was er vortrug, gab sich auffallend selbstbewusst, genoss das Bad in der Menge und war dennoch innerlich leer, unsicher und hatte Angst. Lucien war tief berührt. So einen inneren Zwiespalt der Gefühle hatte er noch nie erlebt. Und das Beeindruckendste daran war, dass Malcolm mit seiner dekadent hohen Stimme genau diese Gefühle herausschrie. Er wurde gefeiert, aber der Preis war offenbar, dass er seine Gefühle schmerzlich vor der Welt auf dem Silbertablett präsentierte. Merkte das niemand? Lucien hatte nur noch Augen für den Sänger. Viel zu schnell war der Auftritt von Dark Skirt vorbei, Lucien hätte noch ewig dieser Stimme zuhören mögen. Er folgte Malcolm hinter die Bühne, stand neben ihm, als er erst einmal zwei Flaschen Bier hinterstürzte, sich einen Joint drehte und dann in der Garderobe verschwand. Zu Luciens Freude duschte er dort erst einmal lange, der Engel schwebte knapp über ihm und berauschte sich am Sprühnebel der Dusche. Wasser war die Kraftquelle der Engel, sie liebten es, da es ihnen möglich machte, sich vor ihresgleichen in einer Gestalt zu manifestieren. Wäre ein anderer Engel in der Nähe gewesen, hätte er jetzt Lucien als blondes Abbild von Malcolm wahrgenommen. Dies war eine weitere Eigenart aller Engel, sie selber hatten keine Gestalt, manifestierten sie sich, ähnelten sie dem Menschen, den sie gerade im Augenmerk hatten, die weißen, um zu helfen, die schwarzen auf ihrer Mission, die Seele dieses Menschen auf die andere Seite zu leiten.

Lucien begleitete Malcolm auf die Party nach dem Konzert und war erstaunt, wie es dem jungen Mann gelang, sofort im Mittelpunkt zu stehen. Malcolm rauchte noch einen Joint, sprach sehr laut und viel, lachte übertrieben schrill, lieferte Tanzeinlagen, herzte und küsste unzählige Leute, gab Autogramme und nahm letztendlich ein junges Mädchen mit ins Auto, das sich bald darauf in seinem Bett im Hotelzimmer wiederfand. Lucien scheute sich nicht, der schnellen, lustlosen Nummer beizuwohnen, Malcolm schlief dann sofort ein. Lucien beobachtete ihn eine Weile und schwebte dann gelangweilt durch das Hotel. Beinah hätte er verpasst, dass Malcolm nach vielleicht einer Stunde schon wieder wach wurde, rüde das Mädchen aus seinem Zimmer warf, sich aus der Zimmer-Bar ein Bier holte, es in einem Zug leerte und dann wieder unter die Dusche stieg. Lange ließ er reglos, ohne sich einzuseifen das Wasser über seinen Körper laufen, Lucien genoss es und betrachtete den abgemagerten nackten Körper. Dann drehte Malcolm plötzlich das Wasser eiskalt, schrie kurz auf und verharrte dann wieder still. Lucien war ein wenig zurückgeschreckt und näherte sich langsam wieder. Wieso tat er das? Jetzt schlang er seine Arme ganz fest um seinen Oberkörper, Lucien sah, dass Malcolm am ganzen Körper eine Gänsehaut hatte, langsam rötete sich die Haut, er atmete in kurzen Stößen. Nach vielleicht fünf Minuten zitterte er unkontrolliert, die Lippen hatten sich schon blau gefärbt, jetzt riss er die Augen auf und begann zu schreien. Lucien war entsetzt. Würde es in seiner Macht stehen, hätte er die eiskalte Dusche abgedreht und den jungen Mann an sich gedrückt, um ihn wieder aufzuwärmen. Aber Lucien schwebte als materieloser Geist neben ihm. Malcolm zitterte immer mehr, jetzt schluchzte er hemmungslos. Endlich schob er die Duschwand beiseite und trat hervor, ohne das Wasser abzudrehen. Tropfend lief er zum Bett, legte sich, so nass und kalt wie er war hin und rollte sich, immer noch schluchzend, in die Bettdecke. Lucien legte sich neben ihn, nahm Malcolms Gesicht in seine Hände und küsste die Tränen fort. "Schlaf, armer Junge, schlaf!" übermittelte er und hielt ihn fest umschlungen. Wahrscheinlich war er durch das Wasser der Dusche so stark geworden, dass die Botschaft ankam, der junge Mann schlief ein. Dass nebenan die Dusche weiter rauschte, störte ihn nicht. Lucien blieb neben ihm, bis es früh an der Tür klopfte und jemand Malcolm wecken kam, die Dusche abdrehte, ihn in seine Sachen steckte und in den Tourbus zerrte. Lucien hatte nicht lange nachgedacht und seinen Platz neben ihm eingenommen. Nichts konnte ihn mehr halten, er musste mit Malcolm ziehen. Wie konnte er dessen Leiden lindern? Und warum litt dieser junge Mann überhaupt so?

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