So lernte ich Kenny kennen

Auf einer Urlaubsreise im Westen der USA begegnen meine Frau und ich zum ersten Mal diesem chaotischen Teenager. Schnell wird klar, dass mehr hinter der Fassade steckt.

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Tatsächlich war sein äußeres Erscheinungsbild nicht gerade derart, das Vertrauen der beiden zu erwecken. Das, was von seiner Kleidung noch vorhanden war, war dreckig und von Ruß geschwärzt, durch die Brandlöcher seiner Jeans sah man, dass er etliche üble Brandwunden an den Beinen hatte, langsam heilende Brandblasen an den Händen und eine violettgelbliche stattliche Beule auf der linken Stirnhälfte. Am imposantesten an ihm war allerdings seine Frisur: Kenny hatte eine wüste Masse hellroter Dreadlocks auf dem Kopf, allerdings waren die Seiten von den Stirnecken über den Ohren bis zum Nacken kurz geschoren. Die Dreadlocks reichten ihm hinten bis unter den Hosengürtel, waren aber auf der linke Seite wohl etwas angeschmort und deutlich kürzer. Seine Augen waren eine Mischung aus grün und grau und vollkommen unergründlich. Seine Gesichtshaut war wie durch einen Sonnenbrand gerötet und die Nase und die Wangen zierten unzählige Sommersprossen. Er war etwa genauso groß wie Vincent, aber schlanker, nahezu schlaksig, dennoch wirkte er sehnig und kräftig. Als nächstes bemerkte Vincent die tätowierten Schlangen, die sich in blauer Farbe um sein linkes Handgelenk wandten, wobei ein Ende einer Schlange auf dem Mittelfinger, die anderen beiden auf dem Handrücken begannen, sich um das Handgelenk und um sich selbst schlangen und dann auf dem Unterarm mit Blickrichtung Ellenbogen ihren Kopf platziert hatten.
"Druidenschlangen?" entfuhr es Vincent.
"Ja" war Kennys knappe Antwort.
Vincent merkte an: "In der Artus-Sage habe ich davon gelesen, dass früher die Druiden und auch der König Artus selbst solche Schlangen um das Handgelenk trugen."
"Ja, früher" knurrte Kenny.
"Bist du Schotte?"
Kenny seufzte. "Gut, wenn man Kenneth MacKenzie heißt, rote Haare hat, tätowierte Schlangen trägt und das RRRR rrrrollt, wird es wohl so sein."
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"Wollt ihr mich im Herbst in Schottland besuchen, ich hab da so ein nettes Schloss, auf dem zwar tagsüber mächtig Trubel herrscht, aber nachts gehört es mir allein. Ihr wolltet doch den komischen Kauz kennen lernen, der dort wohnt. Ihr habt ihn vor euch!"
Die beiden blickten sich verblüfft an. "Du hörst alles, auch wenn du im Vampirschlaf liegst?" fragte Vincent mit aufgerissenen Augen.
"Wäre ich sonst so alt geworden?"
"Wie alt bist du wirklich?" fragte Jessica.
"Nun, ganz schön alt!" feixte Kenny. "Gut, ich wurde Anfang 1661 auf der Insel Lewis geboren, genauer weiß ich es nicht. Bin ein Beltane-Kind, also gezeugt am 30.April, das weiß ich nun wieder zu Hundert Prozent. Reicht das für den Anfang?"
"Und wie alt warst du, als du ... unsterblich wurdest?" drängte Vincent.
Kenny verdrehte die Augen. "Gefühltes Alter 17, für immer. Dauerpupertärer Stress, rasieren noch nicht nötig, Sommersprossen noch da, Hormone in Aufruhr, reicht das?"
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Weit nach Mitternacht kamen sie in Dornie an und parkten den Jeep auf dem Besucherparkplatz von Eilean Donan Castle ein. Vincent stieg aus, streckte sich und sagte anerkennend "Wow!"
Das Schloss stand still auf seiner Insel, die Flut umspülte leise die Felsen, der Mond tauchte die ganze Szenerie in ein gespenstisches Licht mit tiefen Schatten.
"Wenn meine Frau jetzt mit wäre, würde die nächste Stunde damit verbracht werden, die Kamera hundertmal umzusetzen, ´Vincent, kannst du mal einen neuen Akku aus meiner Tasche holen... ich glaube, der Speicher wird voll… Schau mal, ob ich in der Kameratasche oder am Laptop noch einen freien Speicher dabei habe...´, während ich einfach nur dastehen will und schauen..."
Kenny grinste. "Du kannst stehen und schauen, so lange du willst!"
"Das ist also dein Zuhause."
"Ja, hier wohne ich öfters, wenn ich in Schottland bin. Nachts mag ich es sogar, tagsüber ist es stressig. Meistens halte ich es wie ein anständiger Vampir, wenn ich hier bin, tagsüber schlafen und nachts meinen Wohnsitz genießen. Wollen wir jetzt?"
"Ja, klar, es sieht sicher jede Nacht auf seine Art wunderschön aus."
"Wart nur ab, wenn hier mal die Nebel wallen, das Käuzchen schreit, der Wolf heult..."
"Wo ist er eigentlich?"
"Er wird zur Küche des Visitor Centre gepilgert sein, sie machen ihm dort immer seine Extra-Portionen, die sie dann draußen für ihn hinstellen. Mach dir keine Sorgen, ich habe meine Chipkarte, mit der wir durch die Tore kommen, er schwimmt das Stück hinüber und hat seine eigenen Schleichwege hinein."
Vincent folgte Kenny, der darauf bestanden hatte, den Koffer zu tragen, über die Brücke auf die Insel, dann betraten sie den Vorhof des Schlosses. Im Mondlicht sah alles gespenstisch aus.
"Und du bist sicher, dass es hier nicht spukt, kein Schlossgespenst?" fragte Vincent.
"Wenn hier einer spukt, bin ich es oder die Katze, die die Mäuse fernhalten soll."
Dennoch zuckte Vincent zusammen, als scheinbar aus dem nichts plötzlich Wolf vor ihnen auftauchte und sich erst einmal genüsslich schüttelte, dass die Wassertropfen nur so herumspritzten.
"Puh, das gibt Schwamm in den Wänden!" spottete Kenny.
Kenny führte Vincent dann über knarrende Treppen, durch Türen, verwundene Gänge, durch mehrere Innenhöfe hindurch offenbar in das Hauptgebäude des Schlosses. Er öffnete eine unscheinbare Tür und schob Vincent hinein.
"Das ist mein Reich!" erklärte er.
Sie fanden sich in einem großen hohen Raum wieder, der eine Mischung aus Museum und moderner Einrichtung darstellte. Es war gemütlich warm hier drin, stellte Vincent fest. Kenny grinste. "Ich hab mir hier eine Fußbodenheizung einbauen lassen, alte Schlösser sind oft kalt und zugig und in meinem Alter sehe ich es einfach nicht mehr ein, auf solchen Luxus verzichten zu müssen!"
Vincent schaute sich um. Viele der Möbelstücke waren alt und pompös, aber an einer Wand hing ein riesiger Flachbildschirm. Vincent sah einen Computertisch mit Laptop, Drucker, auf dem alten schweren Holztisch lag eine Fernbedienung. Auf dem Sofa türmten sich gemütlich unzählige Kissen, der Sofaüberwurf war in den Vincent schon bekannten MacKenzie-Farben, deren Muster auch Kennys Kilt zierte. Auch die schweren Vorhänge vor den beiden Fenstern trugen diese Tartanmuster. Eine Seite des Raumes war vollkommen von einem gigantischen Bücherregal eingenommen, in dem Vincent neben prächtig gestalteten alten Wälzern auch viele moderne Taschenbücher fand. Mikah hatte inzwischen eine weitere Tür geöffnet, jetzt wälzte er sich genüsslich auf einem am Boden liegenden Handtuch.
"Ja, das ist das Badezimmer, das müssen wir uns teilen. Mikah hat da unten sein Handtuch, wenn er die Route durch Loch Duich gewählt hat, dort hat Fiona deine Sachen bereitgestellt."
Mikah jaulte auf. "Fiona ist mein guter Geist hier, sozusagen mein persönlicher Zimmerservice, offiziell die Leiterin der Service-Crew. Mikah mag sie, weil sie ihn verwöhnt. Außerdem ist sie eine der Priesterinnen, die die Zeremonien im Steinkreis Callanish mit bestreiten. Dieses Amt hat sie von ihrer Großmutter übernommen, die es in einer langen Linie von einer meiner Halbschwestern geerbt hat. Wenn dir eine sinnvolle Bezeichnung für dieses Verwandtschaftsverhältnis einfällt, lass es mich wissen, das würde viele Erklärungsversuche vereinfachen. Aber das sind schottische Verhältnisse, man beginnt eine Vorstellung damit, dass man erklärt, wer man ist, von wem man abstammt und versucht, so lange die Ahnenreihe durchzugehen, bis man einen Vorfahren gefunden hat, der zu deinem Gesprächspartner auf irgend eine Art und Weise eine Beziehung hat, sei es verwandtschaftlicher Natur oder auch nur eine Kuh, die einmal der eine Urahn dem anderen gestohlen hat. Dann klopft man sich auf die Schulter und ist begeistert, eine Gemeinsamkeit gefunden zu haben, von der aus man den Gesprächsfaden fortführen kann. Das nennen wir dann Small Talk. Böse Zungen behaupten, dadurch sind die zahlreichen Pubs entstanden, da solch eine Abhandlung schon mal eine Weile gehen konnte und dabei die Kehle trocken wurde. Außerdem musste die glückliche Angelegenheit, eine Gemeinsamkeit gefunden zu haben, ja auch erst mal mit dem Wee dram gefeiert werden."
Vincent grinste nur vor sich hin.
"Oh, ich rede und rede, setz sich doch erst mal, ich hole die Gläser, ich habe gestern eine Flasche aus dem Lager geholt, ein alter Tropfen aus einer kleinen, aber feinen Distillery von Lewis, jetzt genau 38 Jahre gelagert, damit wollen wir erst einmal auf unser Wiedersehen anstoßen. Nach schottischen Benimm-Regeln würde ich jetzt so was sagen wie: Ich bin Kenneth, vom MacKenzie Clan, Sohn des Kenneth MacKenzie, ich habe einen Geist in mir, der nach Blut giert!"
Vincent hob sein Glas und sagte: "Ich bin Vincent von Parym, Sohn des Schriftstellers Ralph von Parym und habe einen Geist in mir, der nach Leben giert!"
Beide grinsten sich an, stießen mit den Gläsern an und ließen den edlen Whisky durch ihre Kehlen fließen.
Eine Weile saßen sie schweigend gedankenversunken da, dann stand Kenny auf und sagte zu Vincent: "Gut, das schottische Begrüßungsritual ist ordentlich absolviert, jetzt zeige ich dir dein Zimmer."
Kenny öffnete eine weitere Tür und lud Vincent in ein kleineres, aber nicht minder vornehm ausgestattetes Zimmer ein. In der Mitte stand ein großes Himmelbett mit vielen Kissen darauf, die Vorhänge, die um die Pfosten drapiert waren, waren natürlich in den MacKenzie-Farben gehalten, ein großer Schrank stand an einer Seite, die andere Seite des Bettes wurde von einer riesigen Kommode mit Spiegel flankiert, auf der eine große mit Obst gefüllte Schale stand, mehrere gemütliche Sessel standen davor. Der Fußboden war weich mit schweren Teppichen ausgelegt. An den Wänden hingen in kostbar verzierten Rahmen etliche Bilder, die vorwiegend Landschaften und auch eine frühere Version des Castles darstellten.
"Wunderbar!" kommentierte Vincent.
"Ich hoffe, du wirst es dir hier gemütlich machen können. Wenn irgendetwas fehlt, lass es mich oder Fiona morgen wissen."
"Alles ist super, Kenny, die schottische Gastfreundlichkeit hat mich schon immer tief beeindruckt!"
Kenny grinste. "Ja, manchmal ist das ein schweres Erbe. Aber ich finde es prima, dass meine Leute daraus jetzt ihren Vorteil ziehen können, da im Moment der Tourismus hier boomt. Es sichert vielen Menschen ihre Existenz und ist doch Teil ihrer Lebensauffassung."
"Ja, ich habe oft den Eindruck gehabt, dass die Gastlichkeit von Herzen kommt und nicht nur aufgesetzter Kommerz ist" sagte Vincent.
"Es kommt auch darauf an, wie sich der Gast benimmt. Wenn die Leute spüren, dass du es ehrlich meinst, öffnen sie sich dir. Denn es war schon immer so, wenn man mal jemand neues sah, war das eine Attraktion, eine super Gelegenheit, Neuigkeiten zu erfahren, denn viele sind nie aus ihrem Umfeld herausgekommen, vor allem die Leute von den Inseln nicht. Ich denke, auch unsere Abgeschiedenheit ist eine wichtige Quelle dieser bedingungslosen Gastfreundschaft. Früher gab es noch kein Radio, keine Zeitungen und so was, da war dies die einzige Möglichkeit, an Neuigkeiten heranzukommen. Also versuchte man, den Gast so lange wie möglich festzuhalten, der erste Small Talk diente dazu, seine Position klarzustellen, damit man heikle Themen auslassen konnte und dann wurde hemmungslos getratscht."
Kenny grinste. "Und dann gehört es auch zum guten Ton, zu erkennen, wann der Gast müde wird. Lass uns jetzt schlafen gehen, Vincent, der Tag war anstrengend genug. Bald geht die Sonne auf. Das Schloss öffnet 10 Uhr, um sechs muss der letzte Gast gegangen sein. Vorher solltest du besser nicht allein herumstreifen, bevor ich dich nicht offiziell vorgestellt habe. Wolf geht tagsüber immer mal allein raus, wenn er muss oder hungrig ist. Ansonsten hast du deine Ruhe, nur Fiona sieht hier schon mal nach dem rechten. Alles gut organisiert, du kannst ganz in Ruhe schlafen!"

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